Dienstag, 27. Februar 2007

Stilmittel: Aufzählungen

Adam Schaff schreibt: "Was die Sprache, die zugleich Denken ist, existiert objektiv, aber das Weltbild kann dieses Etwas in dieser oder jener Weise oder überhaupt nicht berücksichtigen". In einer Annahme irrt sich Schaff. Ist Sprache Denken, dann kann in aus keiner vorbewussten Realität geschöpft werden, um Begriffe zu füllen. Vielmehr ist der Moment der Bewusstwerdung der Moment, in dem das erste Wort gedacht, gesprochen. Arnold Gehlen formulierte, dass die tierischen Laute unmittelbar sind, menschliche Sprache allerdings das Mittel ist, bewusst Welt wahrzunehmen.
Bei Derrida finden wir die Différance als Bild des Bewusstseins. Das Ordnende, das, Eindrücke aus der Vergangenheit verarbeitet, das Antizipierende, das Zukünfte vordenkt - Konzeptteile der Différance sind beide, sie beschreiben Bewusstsein.
Das sprachliche Bewusstsein hat mithin eine komplexe Struktur. Die Vergangenheit findet sich von der Antizipation der Zukunft ausgehöhlt. Diese Antizipation vermag die Vergangenheit auszuweiden, weil sie Zukunft wird; dass sie wird, ist bewiesen nun durch das leere Vergangene. Es verhält sich aber mit der Antizipation sehr apart. Sie ist ungefähr gleich der Zukunft, da diese nichts weiter als Vorwegnahme des Kommenden enthält; die Zukunft letztlich ist ein Konstrukt, das nur in den ständigen Vorgriffen ist, die Zukunft ist also Vorgriff, der zukünftiger Vorgriff, in Zukunft demnach sich in der Zeit verwandelt.
Eine Form der Différance bilden Vergangenes, Intervall, Spur der Vergangenheit, Vorwegnahme der Zukunft, Intervall und Zukunft.
Wir betrachten das zweite Intervall. Es parzelliert also Antizipation und zukünftige Antizipation. Inmitten muss ein Nichts sein, denn getrennt wären sonst sie beide nicht. Ersetzt just der alte den neuen Vorgriff, ist unser Bewusstsein ein Moment immer nur; Dichtung kann es in Fraktale zwingen. Nicht nur sie: auch neigt es dazu, Zusammenhänge zu bilden.
Es entsteht eine Différance in der Différance, in der die Spuren der Vergangenheit sich allewege übereinander lagern. Dieser Eindruck, die Erinnerung an dies Lager aus Vergangenheitsspuren, ist nur ein einzelner, nur ein Aufblitzen im Zukunfts-Vorgriff, der das gleiche Schicksal wie seine einmaligen Vorläufer wird durchgehen müssen.
Es zeigt uns all das die zerstörte Aufzählung, das Kuckucksei, in dem Pluralität schwingt.

Sonntag, 18. Februar 2007

Synthese

Gottfried Benn

Synthese

Schweigende Nacht. Schweigendes Haus.
Ich aber bin der stillsten Sterne;
Ich treibe auch mein eignes Licht
Noch in die eigne Nacht hinaus.

Ich bin gehirnlich heimgekehrt
Aus Höhlen, Himmeln, Dreck und Vieh.
Auch was sich noch der Frau gewährt,
Ist dunkle süße Onanie.

Ich wälze Welt. Ich röchle Raub.
Und nächtens nackte ich im Glück:
Es ringt kein Tod, es stinkt kein Staub
Mich, Ich-begriff, zur Welt zurück.

Beide schweigen, Verzicht auf die gewonnene Fähigkeit des Sprechens in der Antropormorphie, Isokolie vereint beide, im Verzicht findet die Weltsynthese statt, der die Ich-Synthese folgt; die Weltsynthese, wird aufscheinen, ist dennoch nur Teil des Ich und ständiger Prozess, obgleich beendet, immer wieder neu. "Der stillsten Sterne": Genitivangabe und Artikel auch zugleich, Klang Alliteration Paradoxon, Superlativ malt den Tod ohne vorherige Belebung in der Metapher wie zuvor, das Stillste, das ist, von der in widersprüchlicher Distanz glimmenden Pluralität kein bisschen erleuchtet und mit dem Widerspruch des Ich zur Welt verbunden: "aber". Gegenrichtung ist eingeschlagen "Ich" "Ich" anaphorisch muss dem widersprechenden Ich der Zeile zuvor entsprechen, das eigene Licht ist "getriebenes" Stück Vieh, dass im innern einen Kampf austrägt, in die "eigne Nacht hinaus", ins Äußere getragen und doch verinnerlicht.
"Gehirnlich" Neologismus Adverb mit Nachnamen, Rückkehr in das Nest, die das Nest erst errichtet, "Höhlen" "Himmel" Alliteration zur Einheit der Antithese, Erwartung der Antithese wird enttäuscht: Antithese noch darin: "Dreck und Vieh"; Eingesponnen in die eigene Synästhesie, Gegensätze kann es nicht mehr geben: "Auch was sich noch der Frau gewährt".
Heimkehr in die eigene Nacht vollendet - schreiende Weltdistanz Alliteration, Irrweg - Neubeginn Strophe 1

Mittwoch, 17. Januar 2007

Requiem

Gottfried Benn

Requiem

Auf jedem Tische zwei. Männer und Weiber
kreuzweis. Nah, nackt, und dennoch ohne Qual.
Den Schädel auf. Die Brust entzwei. Die Leiber
gebären nun ihr allerletztes Mal.

Jeder drei Näpfe voll: von Hirn bis Hoden.
Und Gottes Tempel und des Teufels Stall
nun Brust an Brust auf eines Kübels Boden
begrinsen Golgatha und Sündenfall.

Der Rest in Särge. Lauter Neugeburten:
Mannsbeine, Kinderbrust und Haar vom Weib.
Ich sah von zweien, die dereinst sich hurten,
lag es da, wie aus einem Mutterleib.



Die Ellipsen im ersten Satz: Hier hat die Zahl Zwei, zwei Menschen zugeordnet, kein Verb , kein weiteres Substantiv bei sich, um dem Menschen Aufwertung geschehen zu lassen. Er ist eine Zahl, die an "jedem Tisch" aufplatzt in das "jede", in die Unendlichkeit demnach. "Männer und Weiber" - Evolution rückwärts zum Körper hin, das Wîp schließlich war die mittelhochdeutsche Frau, später aber pejorativ. Die Körper bekommen sich selbst und eine Richtung, in sie wird die Zahl implantiert, an der ihnen die Bäuche aufplatzen. "Nah, nackt", alliterierende Nähe ist Sexualität, der einzige Geist, der diesen Leibern innewohnte, "dennoch ohne Qual", denn die andere Option ist nur der Tod. "Den Schädel auf", "die Brust entzwei" Zerbrechen in Einzelteile, aus denen die Zahl als Unendlichkeit aufsteigt und an der wahren Unendluchkeit zerstäubt: "gebären nun ihr allerletztes Mal", mehrdeutig gefasst: Ihr allerletztes Leben.
Das Geplatzte füllt drei Näpfe, denn die Ellipse steht in enger Beziehung zur Elipse des ersten Verses: Die Unendlichkeit und der Geist aus der ersten Strophe, zu Flüssigkeit zersetzt, legen "voll" die Näpfe. "Von Hirn bis Hoden" - das wahre Wesen, ein schmutziges Organ. Verspottung des Geistes als "Gottes Tempel" und "Teufels Stall", Gebäudemetaphern, das hohle Gebäude der Organe ist personifiziert: Die Organe als Wohnstätte des Geistigen, die den ständigen Reinkarnationen beizuwohnen haben im ewigen Kreis aus Vergebung und neuer Sünde, aus "Golgatha und Sündenfall" im Hysteron Proteron.
Der Spott setzt sich fort: Elliptisch fällt der geistlose Rest in den Sarg. Einzelteile sind "Neugeburten", deren Leben als Gegenstand, entleibter als tot, des Begrinsens, sicher aber nicht mehr noch, würdig ist.

Freitag, 12. Januar 2007

Die beiläufigen Tritte des Grubengauls

Ein Grubengaul. Starrt er in die Intervalle, muss er in die Schlingen treten. Stampfen. Augen hohl. Gefälle. Sein Wesen aber ist die Wiederholung die Wiederholung.
Es, es frisst den neuen Reim vergoren.
Führt man ihn durch Stollen durch hindurch, trampelt der Abgrund der Différance näher. Ein Graben aus Zeit, die Spur des Vergangenen und die Antizipation des Kommenden im nicht existenten Zwischenstück nur zehengängerisch eisenberührt, um zu sehen: es ist auch Grube. Führt man ihn dann weiter: Schlucht aus Zeit. Warum wird er die Wiederholung zerkauen und zum Wiederkäuer, um sich selbst über den Fallstrick zu fällen?
Käut er wieder, im Absprung sieht - zwischen den Zwischenräumen - das Kommende der Trittspur des Alten gleich. Grubengaul-Gesinne rückt dann zurück, will sich halten und stolpert über seine eigene Freiheit im Nichts.

Der Herr des Beherrschers

Das Gedicht ist ein Automat. Mit flink anstelliger Differenz zwischen Form und Inhalt versetzt es den Leser in die Virtualität des Videospiels; sinnliche Erfahrung im Rahmen der Regeln, die doch aber Freiheit offerieren.

Mit Hegel gesprochen spricht die Kunst hierarchisch: Kunst als Manifestationsform des Geistes ist sein „sinnliches Scheinen“(1), einander gegenübergesellt sind Form und Inhalt, Geistferne und –nähe erlauben, eine Ordnung der Ränge aufzustellen. Kofman zitiert die Architektur als geistfernste der Künste, in der ihr sinnliches Material nicht anders als bloß anspielend zum Geist sich verhält; es ist das Symbolische. Anders scheint es sich mit der Dichtung zu verhalten, deren Material schon Zeichen, schon Geist sei(2): Die Form sei aufgehoben in der Prosa, welche die Vollendung und Überwindung der Poesie darstelle.

Es lässt sich ein Schema aufstellen. Form der Lyrik also ist Stein und Marmor der Lyrik: Die Allusion lädt den Leser ein, Geistiges zu finden. Befragt der Finder wiederum erneut die Form, findet er in ihr keine direkte Beziehung zum Gedachten, außer der Anspielung nichts; die Form ist leer.

Wie ist es mit dem herausgeschälten Inhalt, dem Wort, dem Satz in der Prosa? Der Leser erhält den Befehl, sich Geistiges zu finden, direkt – das Wort scheint selbst nicht lediglich anzuspielen, sondern selbst die Substanz zu erhalten, die durch diesen Eindruck den ersten Befehl erteilt. In der Rückkehr findet der Lesende vor allem eines: Das Zwielicht des Inhaltes. Diese Zwiespältigkeit rührt daher, dass der nackte Satz zu träumen scheint, doch macht er seinen Traum keinesfalls zugänglich. Der scheinbare Traum des Satzes, der sich, nähert sich ein Schauender vorsichtig an, gleich wieder in sein Lautmaterial zurückzieht, beschwindelt den Leser, befiehlt. Dem Leser begegnet das Undarstellbare. Boshafte Materie zwingt ihn, den geistigen Inhalt zu finden, den es andeutet, mehr als andeutet, als seinen Traum im Material enthält, doch nicht preisgibt und das Unerreichbare schwenkt: den sinnlichen Inhalt des Undarstellbaren, des Erhabenen.

Durch Kant mitgeteilt, existieren die Gefühle des Schönen als auch des Erhabenen. Das Schöne ist der Mitklang einer Sicherheit, die bei Betrachtung eines sinnlichen Falles („Kunstwerk“) ganz gewiss dem sinnlichen Fall ein Allgemeines, einen allgemeinen Begriff zuordnet. Das Erhabene ist das mithilfe der Vernunft gedachte, dem die Vorstellungskraft unfähig ist, sinnliche Darstellung beizustellen. Es ist undarstellbar(3).

Bleibt in der formlosen Prosa Raum, den Eindruck des Undarstellbaren an sich zu spüren, der eigenen Unzulänglichkeit sich zu vergewissern? Ich denke, dass dem nicht so ist. Wenn auch Lyotard eine Kunst fordert, welche die „Regeln dessen [...] erstellt, was gemacht worden sein wird“(4), so gibt es doch eine Regel. In herkömmlicher Poesie erwecken Form und Inhalt den Eindruck persönlicher Souveränität: Die Sprache ist nicht in Prosa gehalten; sie ist ein Illusionskünstler, der gaukelt, dass er seinen Traum preisgäbe; die Freiheit, die die Form gerade durch ihr nur symbolisches Verhältnis bietet, ist scheinbare wirkliche Freiheit, nicht aber bedrohliche Leere.

Das Gedicht hat sich aus Prosa zusammenzusetzen, die die Form nach ihrem Zwang gebiert, doch stets muss sich eine Form hinter ihr verstecken; der Herr des Beherrschers, der den Leser in Leere hinabstürzt. Im Schaffensprozess geht licht der Inhalt voran.

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